Emissionshandel, wie kompliziert ist das denn Neulich stieß ich auf ein Interview mit Achim Wambach in der ZEIT, da standen so ein paar Sachen drin, die mir schlüssig schienen, mir aber nicht ins Weltbild gepasst haben, ergo will ich in meiner Eigenschaft als linksgrün versiffter Ideologe nicht, dass sie stimmen – nur konsequent! Wambach ist ein durchaus renommierter Ökonom. Ich hole mal schnell seine zentrale These hinter der Paywall hervor: Es spielt keine Rolle für das Klima, ob du nach Mallorca fliegst oder nicht, und ob du grünen Strom kaufst oder gar Solarzellen auf dein Dach baust ist dem Klima auch egal, denn: Wasserbett-Effekt! Wie bitte?! Herr Wambach? Ich fliege seit Jahren nicht mehr, und klar verbraucht mein Haushalt ausschließlich Ökostrom, selbstverständlich verkleinere ich damit meinen ökologischen Fußabdruck auf ein Minimum und meinen moralischen Fußabdruck auf ungefähr die Schuhgröße von Jesus! Und dann erklärt er ein paar Grundlagen in Sachen Emissionshandel, die mir zugegebenermaßen so nicht klar waren. Sowohl der innereuropäische Flugverkehr als auch die Energieerzeugung unterliegen dem europäischen CO2-Zertifikatehandel, von dem, so Wambach, alle schonmal irgendwie gehört haben, aber die wenigsten so ganz genau wissen, wie er funktioniert. Das bedeutet: In beiden Wirtschaftszweigen müssen Unternehmen Zertifikate erwerben für jede Tonne CO2, die sie ausstoßen. Die Zahl der Zertifikate, die pro Jahr zum Erwerb freigegeben werden, ist begrenzt und wird kontinuierlich vermindert. Die Industrie will mehr Zertifikate haben, als es zu kaufen gibt, daher geschieht der Verkauf in Auktionen, aus denen sich der Marktwert eines einzelnen Zertifikats ergibt. Was passiert also, wenn meine engsten 320 trinkfesten Freunde und ich uns für den Sommer 2023 ausnahmsweise gegen ein Wochenende am Ballermann entscheiden und stattdessen einfach mal mit dem Fahrrad zum Falkensteiner Ufer? Dann wird Vueling einen Flug weniger nach Palma schicken als sonst. Die Zertifikate, die die Airline für die auf diesem Flug anfallenden Emissionen angeschafft hat, weil meine Freunde und ich, wie immer stockbesoffen, sie nicht rechtzeitig über unsere Planänderung informiert haben, kann sie auf dem freien Markt wieder veräußern. Die gehen dann ans Kraftwerk Neurath, das freut sich, dass es mehr Braunkohle verstromen darf als gedacht, und ziemlich sicher hat es die Zertifikate von Vueling sogar unter dem Marktpreis bekommen, weil klar, die wollten die natürlich schnell loswerden. Dann lieg ich also mit Keule, Hopfen-Kalle, dem Ollen, Horny, Udo Unterbuxe und den anderen halb besinnungslos im Falkensteiner Sand, über mir flirrt die Sonne durchs lindgrüne Blattwerk, und ich murmle irgendwas Sentimentales über die Natur und wie schön die ist und dass wir da jetzt aber mal wirklich auch mal unseren Beitrag geleistet haben, und für mich klingt das in dem Moment echt richtig poetisch, und der Keule nickt mit heiligem Ernst, während er über die Elbe schaut, und der Hopfen-Kalle grunzt was Zufriedenes, aber tatsächlich: Nullsummenspiel! Hier drück ich’s runter, dafür geht’s dort drüben rauf. Wasserbett-Effekt! Well played, Achim Wambach. Und für den Strom gilt dasselbe: Jedes Gramm CO2, das mein Stromverbrauch einspart, weil ich auf Grün mache, bleibt als Zertifikat auf dem Markt und wird dann von wem anders gekauft. Weil ich ein guter Klimamensch sein will und damit die Nachfrage nach Zertifikaten senke, WERDEN DIE DINGER SOGAR BILLIGER FÜR DIE ANDEREN! Achim Wambach, du Teufel. So wenig es mir in den Kram passt: Das ist alles sachlich erstmal richtig, fürchte ich. Was machen wir jetzt damit? Wambach sagt: Der Emissionshandel ist das mächtigste politische Instrument, das wir haben, um Europa auf den Weg in die Klimaneutralität zu bringen. Die konsequente schrittweise Verminderung der Gesamtmenge an erlaubten Emissionen ist um ein Vielfaches wichtiger und wirkungsvoller als die individuelle Entscheidung von Einzelnen für oder gegen den Ballermann. Daher sollten wir als Gesellschaft mehr Energie darauf verwenden, dieses Instrument zu verstehen und zu diskutieren, und dann unsere Regierungen in Haftung zu nehmen, diese Reduktion weiter und strenger und schneller voranzutreiben als bisher. Achim Wambach, reich mir die Hand. Du bist so ein wirtschaftsliberaler Unsichtbare-Hand-des-Marktes-Typ und ich, wie angemerkt, eher in der linksgrünen Blase zuhause, die ich ungern verlasse, aber in einem anrührenden Moment des Brückenbaus über politische Gräben hinweg finde ich: Bis hierher hast du einfach recht, das ist überzeugend. Unsere Energien für gutes und richtiges Handeln sind begrenzt, und wenn wir utilitaristisch auf die Sache schauen, sollten wir diese Energie in unseren individuellen Entscheidungen dort konzentrieren, wo sie die größte Wirkung haben. Sprich: CO2 erstmal dort einsparen, wo es (bisher) keinen Emissionshandel gibt. Beim Autofahren zum Beispiel, beziehungsweise dessen Vermeidung. Bei außeuropäischen Flugreisen, die ebenfalls nicht dem Zertifikatehandel unterliegen. Und, und damit kommen wir endlich wieder bei Lebensmitteln an, beim Essen. Für Tierhaltung nämlich, bekanntermaßen ein massiver Faktor in Sachen Treibhausgase, werden auch keine Zertifikate gebraucht. Wer weniger Tierprodukte konsumiert, verringert ebenfalls tatsächlich Emissionen, anstatt sie bloß zu verschieben. Aber! Soll ich jetzt deswegen wieder mit Flugzeugen fliegen? Wo ich es mir doch so mühsam abgewöhnt habe? Also Horny hätte Bock. Nee! Natürlich nicht! Wambach hat recht, dass es uns gut ansteht, den Emissionshandel besser zu verstehen und dieses Wissen zu verwenden, um Prioritäten zu setzen. Auch damit, dass es in der öffentlichen Debatte einer zu trägen Klimapolitik in die Hände spielt, wenn wir zu viel über individuelle Verantwortung sprechen und zu wenig darüber, warum und wo jetzt doch wieder mehr Zertifikate auf den Markt geworfen wurden als angekündigt. Vor diesem Hintergrund ist es ist eine gute Nachricht, dass die EU soeben einen Beschluss auf den Weg gebracht hat, der unter anderem die kostenlose Vergabe von Emissionsrechten, die es für einige Industrien noch gibt, beenden soll und auch die beiden riesigen Sektoren Verkehr und Wärme in den Emissionshandel holen wird, die derzeit noch ungestraft CO2 ausstoßen dürfen, soviel sie wollen. Damit werden dann bald 75% statt bisher 45% der Emissionen in Europa gedeckelt und bepreist. Aber dass es nicht darum gehen kann, das Individuelle gegen das Politische auszuspielen in der Bekämpfung der Klimakatastrophe, wird schnell klar, wenn man einen Schritt von der Momentaufnahme des Wasserbettes zurücktritt: Auch wenn mein Verzicht auf den Flug nach Malle und mein grüner Strom derzeit netto keinen CO2-Unterschied machen, senden sie doch ein deutliches Signal an eine Wirtschaft, die dringend umgebaut werden muss. Der Bedarf an Zertifikaten wird kleiner, je mehr Menschen auf klimafreundlicheren Konsum setzen, und damit geben wir der Politik ein gutes Argument gegen die fleißige Industrielobby an die Hand, die Menge der ausgegebenen Zertifikate konsequenter zu reduzieren und sie damit teurer zu machen. Und natürlich werden umweltfreundliche Technologien umso rentabler, je mehr Menschen sie nachfragen. Klar werden die Zertifikate trotzdem verbraucht – aber bittesehr nicht in meinem Namen. Umgekehrt: Kaufe ich weiter Strom aus Kohle, und fliegen die Jungs und ich weiter jedes Jahr dreimal nach Malle, werden wir für die innovationsfeindlichen Elemente dieser Industrien zu lebendigen Aufforderungen für das Festklammern mit Zähnen und Klauen am angenehm profitablen Status quo. Sorry, Horny. Und wer ganz raffiniert sein möchte, begibt sich in die Schnittstelle zwischen politischem Instrument und individueller Konsumentscheidung und kauft sich sein oder ihr eigenes Zertifikat – denn was das Kraftwerk Neurath kann, können wir mündigen Bürgerinnen und Bürger schon lang: Der Industrie die Emissionen wegkaufen und so selbst einen Beitrag zur allzu langsam voranschreitenden Verringerung der verfügbaren Zertifikate leisten. Bloß, dass wir dann keine Kohle damit verstromen, sondern: Nix. Nix machen wir damit. Ätsch. (Unkomplizierter noch ist das für Leute mit elektrischen Autos, die müssen dafür lediglich eine seltsame Empfehlung des ADAC ignorieren und erreichen so denselben Effekt.) Das war der Exkurs. Er war sehr lang. Ich fand ihn eigentlich ganz interessant. Jetzt wieder News.
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